Sommerzeit ist Reisezeit – Reisen ist mehr als nur unterwegs sein
Unter diesem Titel habe ich in der Frühlingsausgabe in unserem Magazin „Die Brücke“ ein nachdenkliches Plädoyer für das Reisen geschrieben. Ich erinnere daran, dass ich in meinem Aufsatz im letzten Absatz auf eine andere Seite der Medaille „Reisen“ hingewiesen und kritische Gesichtspunkte nahezu außer Acht gelassen habe, obwohl notwendiger und selbstverständlicher Respekt gegenüber fremden Kulturen und Toleranz erwähnt wurden. Die folgenden Zeilen sollen von den weniger erbaulichen Reiseerfahrungen erzählen. Ein Blick auf unseren „Egoismus“ sei hin und wieder angebracht. Manchmal wird im Reisefieber Rücksicht und Höflichkeit vergessen. Das zeigt sich schon auf der Autobahn und in überfüllten Zügen zum Reiseziel. Auf den Straßen wird oft die Straßenverkehrsordnung missachtet, d. h. Geschwindigkeitsbegrenzungen werden nicht eingehalten; es wird gefahrvoll überholt, gedrängelt und vieles mehr. Die Verkehrswege sind überlastet, und viele Reisende stecken im Stau. Dies alles führt nicht nur zu vermehrten Unfällen, sondern auch zu großen Umweltbelastungen. Auf den Flughäfen sind ebenfalls Geduld und Nachsicht gefragt.
Eine kleine Episode, die vielleicht der eine oder andere Urlauber schon erlebt hat, soll als Beispiel für einen allzu menschlichen Egoismus dienen: In einem Wellnesshotel wechseln zunächst die in offensichtlich begrenzter Zahl vorhandenen Liegestühle am Pool ihre Besitzer. Wenn jemand aufstand, galt der Stuhl als frei. Belegungssymbole, z. B. ausgelegte Handtücher oder Taschen, wurden nicht anerkannt. Die Stühle reichten für alle. Man fand meistens einen, wenn man sich ausruhen wollte. Als eine neue größere Reisegruppe in diese Ordnung eingriff, indem sie auf die begehrten Liegestühle einen dauerhaften Besitzanspruch erhoben, schienen die Liegestühle nicht mehr für alle zu reichen. Die „Neuen“ deklarierten schon zu ungewöhnlicher Zeit mit Belegungssymbolen auch einen zeitweilig nicht von ihnen besetzten Liegestuhl als belegt. Schon wenn sich jemand so einem „freien“ Stuhl in verdächtiger Weise näherte, wurde man durch Posen, Gesten und oft verbal von den „Besitzern“ zurückgewiesen. Eine bisher funktionierende Ordnung brach zusammen.
Mancher Urlauber wird sicherlich von ähnlichen unangenehmen Vorkommnissen berichten können. Zu besonderen Auswüchsen kommt es, wenn übermäßiger Alkoholgenuss im Spiel ist, wie z. B. in der allseits bekannten „Ballermann-Szene“. Doch solche Tabubrüche sollten auf Einzelfälle begrenzt sein. Natürlich gibt es keinen Rechtsanspruch auf Urlaubsreisen, auch wenn vielleicht der eine oder andere Arbeitgeber ein Urlaubsgeld zahlt und der Anspruch auf Urlaub gesetzlich garantiert ist. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es auch Mitmenschen gibt, die sich keine Urlaubsreisen leisten können. Es sind oft diejenigen, für die ein Tapetenwechsel oft angebracht ist und die sich mit dem sprichwörtlichen „Balkonia-Urlaub“ zufriedengeben müssen. Der Gedanke an sie sollte einige maßlose und zur Überheblichkeit neigende Reisende etwas mehr an Rücksicht und Zurückhaltung erinnern.
Zum Liegestuhlbeispiel sei vermerkt, dass Heinrich Opitz (1925-2002), Ordinarius für Soziologie in Freiburg und Gründungsdirektor des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg(1964), in „Prozesse der Machtbildung“ (1969, 2. Aufl.) ein ähnliches und ausführlicheres Beispiel, das auf einem Kreuzfahrtschiff spielt, geschildert hat, u. a. mit der Fragestellung, wie eine Minderheit ihre neue Ordnung durchsetzen kann.